Konzepte der Physik verstehen und anwenden

Ein neuer Schwerpunkt in der Physik für Ingenieure

Physik verstehen und anwenden – Klassische und moderne Physik für Ingenieure

“Das brauch ich nicht!”, “wozu das Ganze?”, “ich möchte nur irgendwie bestehen…”, Sätze, die sicherlich vielen Studienanfängerinnen und -anfängern einfallen, wenn sie sich in einen (Pflicht)-kurs mit dem Titel ‘Einführung in die Physik für Ingenieure’ einschreiben.

Ich höre diese Sätze seit Beginn meiner Zeit als Tutor. Vielen Studierenden fällt es schwer die Hintergründe, den Sinn hinter all den vielen Inhalten wahrzunehmen, ihnen fehlt eine sinnhafte Verknüpfung zu ihrem Alltag, Leben und Studium. Dieses ‘Phänomen’ tritt nicht nur hier bei ‘uns’ an der Technischen Universität Berlin auf, wie ich auf Didaktiktagungen sehr schnell feststellen konnte. Rund um den Globus berichten Physik-Dozierende von solchen Erfahrungen und den damit verbundenen Herausforderungen. Interessanterweise wird von vielen Dozierenden vorausgesetzt, dass die Studierenden die Inhalte selbst in ‘das große Ganze’ einordnen und eine starke Eigenmotivation entwickeln, teilweise sehr spezielle Problemstellungen zu verstehen und zu lösen.

 

Eric Mazur, Physiker und Dozent in Harvard, sagte schon dazu in den 90er Jahren [1]:

“ Man weiß, dass Studierende zu Beginn ihrer ersten Physikvorlesung feste Vorstellungen und Meinungen zu allgemeinen physikalischen Phänomenen haben. Diese Vorstellungen basieren auf persönlichen Erfahrungen und färben ab auf die studentische Interpretation der Darstellung der Lerninhalte der Vorlesung. […] Halloun und Hestenes [2]  zeigen eindrücklich, dass die Lehrveranstaltungen kaum dazu beitragen, diese auf „gesundem Menschenverstand“ beruhenden Vorstellungen zu ändern.“

 

Hier stellen wir kurz einen Ansatz vor, wie wir diesen Zustand und die Wahrnehmung der Physik verbessern wollen. Unser Schwerpunkt liegt hierbei auf dem Verstehen und Anwenden der Konzepte der Physik und der Digitalisierung unserer Lehrinhalte, um das Selbststudium zu ermöglichen und zu erleichtern.

 

Das erfahren Sie in diesem Artikel:

Spannende Übungsaufgaben

Traditionelle Übungsaufgaben fördern das Auswendiglernen von „Kochrezepten“. Infolgedessen fordern die Studierenden in den Lehrveranstaltungen mehr Zeit für das Vorrechnen von Aufgaben und weniger Zeit für die Erklärung physikalischer Phänomene und Theorien. Darüber hinaus funktionieren solche “Rezepte” leider nur für sehr spezielle Problemstellungen, was die Frustration der Studierenden zusätzlich erhöht. Daher haben wir sämtliche Übungen neugestaltet und mit dem folgenden Anspruch konzipiert:

 

Übungen sollten motivierend und herausfordernd zugleich sein, in ein Thema einführen und dieses auch ‘abschließen’, damit die Studierenden gedanklich einen ‘Haken’ machen können. Trotzdem sollten keine Inhalte unnötig vereinfacht werden und möglichst alle Aspekte eines Gebietes der Physik zumindest erwähnt und aufgezeigt werden. Letzteres ermöglicht erst die Verknüpfung des Gelernten mit neuen Problemstellungen in anderen Fächern oder im Leben nach oder außerhalb der Universität. Außerdem kann dadurch die Wahrnehmung der Relevanz dieser Inhalte gefördert werden.

Abbildung 1: Beispiel für ein Übungsblatt. Abbildungen zeigen die Aufnahme des Spektrums einer Gasentladungslampe mithilfe eines Prismas und ein von Kirchhoff und Bunsen mithilfe eines Prismas aufgemaltes Sonnenspektrum, sowie die Spektren verschiedener Elemente.

In Abbildung 1 können Sie einen beispielhaften ‘Übungszettel’ sehen, wie er zu Beginn des Semesters eingesetzt wird. Jeder Aufgabenblock enthält einen kürzeren oder längeren Einführungstext für das neue Themengebiet, passende farbige Abbildungen und einen Block mit den zugehörigen Aufgaben. Ein Großteil der Aufgaben zielt auf das Verständnis der wichtigsten Konzepte dieses Teilgebietes der Physik ab, siehe beispielsweise Aufgaben 1 — 5. Zusätzlich haben wir Aufgaben entwickelt, die gezielt häufig auftretende Misskonzepte und falsche Vorstellungen hinterfragen und helfen sollen, diese abzubauen. Diese Aufgaben sollen bestenfalls Fragen bei den Studierenden hervorrufen, welche in den Tutorien und Übungen unter den Studierenden zu anregenden Diskussionen führen. Zusätzlich gibt es ‘traditionelle’ Aufgaben, in welchen die Studierenden die zugehörigen Gesetze wenige Male anwenden können, siehe beispielsweise Aufgaben 6 und 7.

Die beiden scheinbar unzusammenhängenden Abbildungen helfen bei der Verknüpfung des Themas und der gelernten Konzepte mit anderen Themengebieten und Naturphänomenen: Was hat eine Natriumdampflampe, welche die typische gelbe Straßenbeleuchtung hervorruft, mit unserem Sonnenspektrum zu tun? Was ist das Sonnenspektrum und warum sieht es so aus?

Inwiefern gibt es Verbindungen zu Planck und der Quantenmechanik usw. Diese und ähnliche Fragestellungen führen auf die nächsten Aufgabenblöcke und Übungen.

Weniger Zeitdruck durch digitalisierte Angebote

Die ‘Übungszettel’ werden den Studierenden wöchentlich online über unsere Moodle-Plattform zur Verfügung gestellt, sodass sie sich auf unsere Übung vorbereiten können, siehe Abbildung 2. Auch online können Fragen gestellt werden, welche wir zeitnah beantworten. Aus Umfragen wissen wir, dass viele Studentinnen und Studenten dieses Angebot zu schätzen wissen, da sie arbeiten gehen oder Kinder betreuen müssen und diese asynchrone Arbeitsweise gut in ihren Alltag integrieren können. Unsere Übungen bereiten zudem gezielt auf die Prüfung vor.

Viele Studierende nutzen auch gerne die Gelegenheit und bearbeiten die Aufgaben zusammen mit den Tutorinnen und Tutoren in kleinen Übungen und/ oder in einer wöchentlich stattfindenden großen gemeinsamen Übung. Hier werden sie aufgefordert kleine Gruppen zu bilden, gemeinsam die Aufgaben zu bearbeiten, sowie diese zu diskutieren. Wir helfen ihnen dabei tatkräftig, lösen Missverständnisse auf, fördern Diskussionen und entwickeln so auch unsere Aufgaben weiter, siehe Abbildung 3.

Abbildung 3: Übung als ‚flipped clasroom‘.

Ein weiteres kurzes Beispiel: Nach wenigen Wochen wird schon ein komplett anderes und sehr abstraktes Gebiet der Physik behandelt, die Teilchenphysik. Da es spätestens hier vermehrt um Anwendung und Berechnung von Problemstellungen in komplexen Theorien geht, zielen wir auf das Verstehen der grundlegenden Konzepte der Quantenmechanik ab, siehe Abbildung 43. Hier wird das Phänomen der Paarbildung mit einer etablierten Anwendung verknüpft: Die Positronen-Emissions-Tomographie, ein bildgebendes Verfahren der Nuklearmedizin. Hier wird eine Positronen emittierende radioaktive Substanz in den Körper injiziert, welche sich an bestimmten Stellen im Organismus konzentriert und charakteristische Photonen aus der Paarvernichtung erzeugt. Der Ursprungsort der Photonen kann aus der gleichzeitigen Detektion zweier Photonen, welche eine identische

Abbildung 4: Übungsblatt zur Teilchenphysik. Abbildungen von Jens Maus (Link).
 

Energie und entgegengesetzte Ausbreitungsrichtungen aufweisen, bestimmt werden. Dies führt wieder auf Teilchen und Antiteilchen und das Standardmodell der Elementarteilchenphysik, welche als eine Erweiterung der Quantenmechanik über die Gesetze Einsteins spezieller Relativitätstheorie betrachtet werden kann. Oder anders gesagt: Es hängt alles zusammen. Teilweise werden solche zusammenhängenden Themengebiete und Aufgaben mithilfe von Storytelling verknüpft, siehe Abbildung 4 oben. Wöchentliche Selbsttests mit typischen Prüfungsfragen helfen den Studierenden ihr Wissen zu überprüfen. Vielleicht haben Sie schon ein wenig Lust auf Physik bekommen?

 

Zum Schluss

Abschließend möchten wir sagen, dass sich der Aufwand gelohnt hat. Insgesamt wurden über 200 Seiten solcher Übungsblätter inklusive Musterlösungen erstellt. Die vorgestellte Methode ist ein wichtiger Bestandteil unserer Lehrveranstaltungen geworden, wobei wir auch unter anderem Concept-Tests eingebaut (Abbildung 5), die einzelnen Bestandteile aufeinander abgestimmt und Inhalte digitalisiert haben — dies war ebenso wichtig. Unsere Neuerungen und Übungen werden bis heute eingesetzt und erfreuen sich großer Akzeptanz bei den Studierenden, wie Umfragen gezeigt haben.  Besondere Anerkennung finden sie bei den Tutorinnen, Tutoren und Dozierenden, welche noch die alten Strukturen kennen und ebenfalls tatkräftig Aufgaben entwickeln, die an unsere bisherige Arbeit anknüpfen. Dies hat einen entscheidenden Schub im Zuge der Corona-Krise bekommen. Falls Sie Interesse an Details haben, kontaktieren Sie uns gerne. Eine kleine Darstellung der Reformen inklusive einer Miniauswertung können Sie in [4] finden.

Literatur

  1. Mazur, G. Kurz, U. Harten, (2017), Peer Instruction Interaktive Lehre praktisch umgesetzt, Springer-Verlag GmbH.
  2. A. Halloun und D.Hestenes, Am. J. Phys. 53 (1985); ibid. 53, (1985); ibid. 55, (1987); D. Hestenes, Am. J. Phys. 55, (1987).
  3. Abbildungen von Jens Maus (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:PET-schema.png).
  4. Mittelstädt, A., Schliwa, A., (2019), Student activation in curriculum „Physics for engineers“, Proceedings of the SEFI 47th Annual Conference, Budapest, Hungary, p. 787.

 

 

Institut für Festkörperphysik

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Dr. Andrei Schliwa
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