Lernen mit digitalen Medien

Formeln ohne Frust –
E-Learning für die Theoretische
Informatik

Finstere Blicke, Augenlider die sich langsam schließen, auf Händen aufgestützte Köpfe – wenn Sie eine der Pflichtveranstaltungen in der Theoretischen Informatik lehren, kennen Sie diesen Anblick bei vielen  Studierenden. Und nach den Klausuren sieht es bei vielen kaum besser aus. Ich habe erst als studentischer, dann als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Lehre in der Theoretischen Informatik mitgearbeitet.  Dabei habe ich von vielen Studierenden mitbekommen, wie wenig sie mit diesen Inhalten gerechnet haben und auch wie schwer ihnen die ganzen Formeln und Beweise fielen. Viele Studierende fallen durch die  Kurse oder brechen sogar das Studium ab, weil sie nicht mit der Theorie fertig werden. Dieses Phänomen lässt sich in wissenschaftlichen Arbeiten nicht nur aus Deutschland sondern weltweit finden. Dieser Artikel gibt einen Überblick über einen möglichen Ausweg, der Studierenden leichteren Zugang zur Theoretischen Informatik verschafft, aber auch leicht an andere Fächer angepasst werden kann.

Das erfahren Sie in diesem Artikel:

Wie baue ich Lerneinheiten, die nicht einschläfern?

Wer allein zuhause lernt, verliert schnell die Lust und wird eingeschläfert von immer gleichen Abläufen. Deshalb sind die Lerneinheiten, um die es hier geht, so gebaut, dass sie Abwechslung und regelmäßig auch  Entscheidungen ermöglichen und die Studierenden damit bei der Stange halten.

Abbildung 1: Lerneinheiten bestehen immer aus mehreren solchen Blöcken.

Die Lerneinheiten enthalten Erklärungen immer sowohl als Text als auch als Videos. Dazu gibt es Aufgaben im Single-Choice- und Multiple-Choice-Format um sich selbst zu testen. Zur gewählten Antwort gibt es
immer Feedback, warum das richtig oder nicht richtig war. Damit kann man sich bei einer falschen Antwort verbessern und es haben auch diejenigen etwas davon, die die Antwort nur nach Gefühl gewählt haben. Die Einheiten sind als Kurse im Lernmanagementsystem Moodle gebaut. Als zuverlässige Open Source-Plattform ohne Anschaffungskosten eignet sich das System gut. Dabei können sich die  Studierenden in den Lerneinheiten auf Lernpfaden selbständig durch Erklärungen und Aufgaben bewegen. Über separate Navigation können sie auch gleich an die Stelle springen, die sie im Augenblick  interessiert. Warum könnte das sinnvoll sein, wenn es doch extra Pfade dafür gibt? Gerade wenn sie die Lerneinheit wiederholt benutzen kann es ja sein, dass für die Studierenden nur ein kleiner Teil interessant  ist. Da wäre es frustrierend, wenn sie sich jedes Mal durch alle Teile der Erklärungen durchkämpfen müssten. Aber was ist ein Lernpfad?

Abbildung 2: Dazu gibt es Erklärungen, wie man in diesem Ausschnitt sieht.

 

Abbildung 3: Aufgaben sind nützliche Selbsttests. Bei jeder Antwort gibt die Lerneinheit Feedback wie hier unten im Bild.

Vor jeder neuen Erklärung gibt es die Möglichkeit, aktivierende kleine Aufgaben zu machen, die auf den neuen Inhalt vorbereiten. Alternativ können die Studierenden auch gleich zur Erklärung weitergehen. Nach
jeder neuen Erklärung gibt es Aufgaben, um gleich mal zu überprüfen, was man da gelernt hat. Wer mehr erfahren will, kann an manchen dieser Stellen aber auch noch Vertiefungen auswählen, die noch mehr über den Inhalt verraten und tiefer in die Theorie eintauchen.

All das ergänzt bereits bestehende Module. So können Studierende den Stoff in ihrem eigenen Tempo vertiefen wenn sie die Lerneinheiten nutzen. Der Aufbau richtet sich nach  Gestaltungsempfehlungen mehrerer über viele Jahre empirisch fundierter Lerntheorien – der Cognitive Load Theory, der Cognitive Theory of Multimedia Learning und der Cognitive-Affective Theory of Learning with Media. Wichtige Punkte sind dabei zum Beispiel nicht zu viele Sachen gleichzeitig anzuzeigen um die Köpfe nicht zu überlasten und das Nutzen von persönlicher Sprache, die nicht zu abgehoben ist, so dass die Studierenden sich angesprochen fühlen anstatt sich belehrt vorzukommen. Ein anderer wichtiger Punkt ist direktes inhaltliches Feedback auf bearbeitete Aufgaben. Gerade in der Theoretischen Informatik, wo die Korrekturschleifen der Hausaufgaben oft sehr lang sind, ist das hilfreich, um Fehlvorstellungen schnell wieder loszuwerden. Haben die Studierenden mehr als 75 Prozent der Fragen eines Themas richtig  beantwortet, wird eine Bonus-Seite freigeschaltet. Die Anzahl der Versuche pro Frage ist dabei egal.

Welche Zutat darf nicht fehlen?

Die Inhalte der Lerneinheiten stammen aus zwei Modulen, die seit Jahren an der TU Berlin gehalten werden. Das erste Modul hört auf den Namen „Formale Sprachen und Automaten“. Es ist ein Erstsemestermodul mit ungefähr 600 Teilnehmern und Pflicht für Informatik-Studierende. Im Modul geht es darum, die Studierenden erst mal an den Umgang mit Formeln und kleinen Beweisen heranzuführen. Danach lernen sie die Grundlagen der formalen Sprachen, der Chomsky-Hierarchie und der Automatentheorie kennen. Die zwei Lerneinheiten zu diesem Modul befassen sich mit Endlichen Automaten, dem Pumping Lemma und Automatenminimierung.

„Reaktive Systeme“ hat einen fortgeschrittenen Schwierigkeitsgrad und ist ein Wahlpflichtmodul für Informatik-Studierende. Das Modul hat normalerweise ungefähr 100 Teilnehmer. Im Modul geht es darum, das Verhalten von Prozessen untereinander zu modellieren und wie Prozessverhalten mit Trace-Äquivalenz oder Bisimulation vergleichbar ist. Dazu kommen Fixpunkttheorie zur Berechnung der größten Bisimulation in einem System und Hennessy-Milner-Logik für Berechnungen rund um Eigenschaften von Prozessen. Zu diesem Modul befassen sich die entstandenen Lerneinheiten mit starker und schwacher Bisimulation und Fixpunkttheorie.

Bei der Auswahl, welche Inhalte in Frage kommen um sie als Lerneinheiten umzusetzen, war eine wichtige Quelle viel Literaturrecherche. In verschiedenen Ländern gab es schon Studien dazu, welche Grundlagen  der Theoretischen Informatik den Studierenden besonders schwerfallen. So konnte ich schon ein paar Inhalte finden, die in Frage kamen. Aber wie lässt sich das weiter eingrenzen? Hier kam jetzt die Zutat ins Spiel, die bei der Erstellung von Lernmaterial nicht fehlen darf: Ganz viel Erfahrung. Durch Rücksprache mit anderen Lehrenden und meine eigenen Erfahrungen, wo Studierende in Hausaufgaben und Klausuren oder mündlichen Prüfungen typischerweise Fehler machen, ließen sich konkrete Themen abstecken.

Dazu kam jetzt noch die Idee, die wichtigsten Inhalte hinzuzufügen, die zwar selbst keine Probleme bereiten, aber helfen, den problematischen Teil besser zu verstehen. Wer Probleme hat, für eine formale Sprache die Myhill-Nerode-Äquivalenzklassen aufzustellen, kommt schneller voran, wenn er die formale Sprache selbst gut versteht.

Die Inhalte basieren also auf drei Faktoren:
1. Wo liegen nach Ergebnissen mehrerer empirischer Studien Probleme der Studierenden in diesen Modulen?
2. Wo liegen typische Probleme in Hausaufgaben und Klausuren?
3. Was ist für die Themen aus 1. und 2. der wichtigste Inhalt um das verstehen zu können?

Wozu der ganze Aufwand?

Ich habe in sechs Modulen in Berlin, Duisburg, Aachen, Salzburg und Potsdam ausführliche Studien mit Kontrollgruppen durchgeführt und dabei Motivation und Kompetenzzuwachs untersucht. Es wird immer
wieder geschrieben, dass Studierende nicht motiviert sind, den komplexen Stoff rund um die Theoretische Informatik zu lernen. Aus diesem Grund war Motivation ein interessanter Aspekt. Bei Kompetenzzuwachs geht es darum, ob die Studierenden die Inhalte mit der Lerneinheit besser verstanden haben als ohne. Auch mit der User Experience und der Nutzung der Plattform habe ich mich beschäftigt, um herauszufinden, wie die Lerneinheiten genutzt werden und wie leicht das den Studierenden fällt.

In der Vorlesung, den Tutorien und den Kursforen habe ich die Studierenden gebeten, an der Studie teilzunehmen und eine erste Umfrage auszufüllen. In dieser ersten Umfrage ging es vor allem um den Wissensstand und die aktuelle Motivation der Studierenden. Dann wurden alle die mitmachen wollten in zwei Gruppen A und B aufgeteilt. Gruppe A durfte jetzt die erste Lerneinheit zum Kurs für zwei Wochen  nutzen und für beide ging der Kurs ganz normal weiter währenddessen. Danach gab es eine zweite Umfrage dazu, wie mittlerweile Motivation und Wissensstand waren. Jetzt durfte Gruppe B zwei Wochen die zweite Lerneinheit nutzen, während wieder für beide Gruppen der Kurs weiterlief. Zum Abschluss gab es noch eine dritte Umfrage, wieder zu Motivation und Wissensstand.

Ohne Frage kostet es eine Menge Zeit, solche Lerneinheiten auszuarbeiten, umzusetzen und in meinem Fall auch noch ausführlich zu evaluieren. Hat sich der ganze Aufwand denn gelohnt? Aus meiner Sicht schon! Viele Studierenden hatten nach eigener Aussage Spaß an den Lerneinheiten und haben gesagt, dass sie ihnen beim Lernen geholfen haben. In Interviews haben Studierende zum Beispiel über die Lerneinheiten  Folgendes gesagt:

  • „Sie waren sehr hilfreich“
  • „… da bin ich wirklich alles nochmal durchgegangen, hab die Tests nochmal gemacht und [das] hat
    wirklich viel geholfen.“
  • „Und dann war es einfach viel verständlicher viel einfacher …“
  • „[D]as war halt echt schön und extrem hilfreich.“

Die Daten aus den Umfragen wurden statistisch ausführlich ausgewertet. Bei Motivation gab es dabei keine klaren Tendenzen in der Auswertung, die Kompetenz war bei denjenigen etwas besser, die die Lerneinheiten genutzt haben. Die Teilnehmerzahlen waren allerdings nicht groß genug, um sichere statistische Aussagen zu treffen.

Bei der User Experience haben die Lerneinheiten gut abgeschnitten. Sie waren also gut verständlich und einfach zu nutzen, was wichtig ist um Frust durch die Plattform selbst zu vermeiden. Bei einer so beliebten Plattform wie Moodle wird zwar ohnehin daran gearbeitet, möglichst gute User Experience zu schaffen, aber durch die Vielseitigkeit der Plattform wirken dabei viele unterschiedliche Faktoren. Für die  Lerneinheiten wurden nur Teile von Moodle genutzt, die es schon vorher gab. Lediglich ein paar Buttons mussten hinzugefügt werden, insbesondere um komfortabel zwischen Texten und Videos hin- und herspringen zu können.

Zum Abschluss

Ist der Frust bei den Formeln jetzt tatsächlich verschwunden? Viele Studierende haben die Lerneinheiten auf jeden Fall gerne und ausführlich benutzt und hatten auch den Eindruck, dadurch mehr zu verstehen. Sie schnitten auch in Aufgaben besser ab. Die Lerneinheiten sind mittlerweile öffentlich verfügbar und werden in Kursen in Berlin, Potsdam, Salzburg und Duisburg weitergenutzt – und hoffentlich schon bald an  weiteren Universitäten. Wenn Sie noch mehr über die Lerneinheiten erfahren möchten, zum Beispiel darüber welche Lerntheorien genau benutzt wurden, wie die Evaluation ganz genau durchgeführt wurde, oder was die statistische Analyse ausgespuckt hat, sei Ihnen an dieser Stelle die zugehörige Doktorarbeit empfohlen, die unter https://depositonce.tu-berlin.de/handle/11303/10955 zu finden ist.

Fachgebiet Modelle und Theorie Verteilter Systeme

Leitende*r:

Prof. Dr. Uwe Nestmann
Sekr. TEL 7-2
Ernst-Reuter-Platz 7
10587 Berlin
uwe.nestmann@tu-berlin.de

Projektbeteiligte:

Prof. Dr. Uwe Nestmann
Dr. Arno Wilhelm-Weidner